Der Verdacht
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Das erste Mal in seinem Leben befand er sich auf einem Friedhof. Auf einem Autofriedhof. Nie hätte er gedacht, dass sein Wagen, den er vor zehn Jahren, aus dritter Hand zwar, aber gut in Schuss, gekauft hatte, hier enden würde. Nun fand der Karren auf dem Schrottplatz vor den Toren der Stadt seine letzte Ruhestätte.
Die Sonne ritzte unbarmherzig ihre Strahlen in das Alt Blech. Steininger, Handlungsreisender in Sachen Schokolade, verstand das als Frontalangriff der Natur gegen seine Existenz, von der er nun ein Stück verloren hatte. Jemand wollte ihn quälen und ihm das Herz herausreißen, nicht einmal ein weiter offener Himmel konnte ihn besänftigen.
Da überkam ihn unaufschiebbare Neugier. Jetzt, wo er schon einmal da war auf dem Autofriedhof, konnte das doch nicht alles gewesen sein, die alte Kiste abzuliefern und unauffällig wieder zu verschwinden.
Und plötzlich saß er auf dem zerrissenen Sitz eines Renault Vier. Sah durch die nicht mehr vorhandene Fensterscheibe die Junivögel am Himmel vorbeiziehen. Links lag ein großes Weizenfeld, der Wind wirbelte etwas Staub auf. Der Lärm des Nachmittagsverkehrs von der nahegelegenen Lambacher Straße riss ihn aus seiner fast meditativen Haltung.
Steininger, mit schütterem Haarwuchs und von leicht korpulenter Statur, schwitzte sein T-Shirt durch. Beugte sich hinüber und kramte im Fach vor dem Beifahrersitz. Betrachtete kurz das Foto mit dem Gesicht eines Mädchens. Eine leere Weinflasche kullerte unter dem Fahrersitz hervor und erschreckte ihn. Die abrupte Bewegung, die Steininger dadurch mit der Hand machte, ließ ihn mit dem Unterarm an einen harten, metallenen, nicht sichtbaren Gegenstand prallen. Er versuchte, durch Tasten zu erkunden, ob er eine Öffnung im völlig verschmutzten Teppichbezug am Boden des Renault Vier fand, um den Gegenstand greifen zu können. Er entdeckte einen kleinen Schlitz, riss den Stoff weiter auf und griff hinein. Der Gegenstand war ein spitzes Messer mit eingetrocknetem Blut darauf. Steininger hielt es so in der rechten Hand, als hätte er damit gerade jemanden umgebracht.
Was war hier geschehen? War es Menschen- oder Tierblut? Vielleicht war der frühere Besitzer Jäger und hatte einem Kaninchen das Fell abgezogen? Warum hat er dann das Messer hier versteckt? Steininger ertappte sich dabei, etwas zusammenzureimen, zu fantasieren.
„Was machen Sie denn hier?“, schrie plötzlich eine Stimme durchs offene Fenster des bereits zum Großteil ausrangierten Renault Vier. Es war Ferdl August, der Friedhofswärter persönlich, eingehüllt in einen schmutzigen Overall, der, als er gerade für einen Kunden eine noch gut erhaltene Stoßstange eines VW Käfer holen wollte, Steininger im Wrack sitzen sah.
Der erschrak fürchterlich und streckte August das mit eingetrocknetem Blut verschmierte Messer entgegen. Hitchcock ließ grüßen. August wich ruckartig zurück.
„Hallo, hallo! Sind Sie verrückt geworden“, schrie er.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, ich habe es nur im Teppichstoff unterhalb des Handschuhfachs gefunden“, erwiderte Steininger lakonisch. „Ich bin ein alter Renault-Fan, darum habe ich hier herumgestöbert. „Das geht doch in Ordnung, oder?“
Der Schrotthändler suchte das Weite, als hätte er sich einer unerwarteten Gefahr ausgesetzt, der er möglichst schnell entkommen musste.
Der heiße Sommertag brannte auf all den Schrott, Konsumzeugnisse eines ehemaligen Luxus, die jetzt nichts mehr wert waren. Steininger saß im Renault, als sei er mit der alten Kiste mitabgeliefert worden.
Vor zehn Jahren hatte sich Steininger wegen seines neuen alten Wagens derart mit seiner Frau Paula gestritten, dass er in der Wut ein Küchenmesser ergriff und es mit einer Drohgebärde in Richtung Paula hielt. Das Messer, das er im alten Renault gefunden hatte, sah ziemlich ähnlich aus.
Paula rannte damals aus dem Haus, kam erst nach fünf Stunden wieder zurück. Steininger schenkte ihr als Entschuldigung eine Schachtel der teuersten Pralinen samt exklusivem Blumenstrauß. Doch ab diesem Zeitpunkt war vieles anders zwischen den beiden, wenngleich Steininger Paula immer schon ein wenig in Verdacht hatte, sich anderswo die fehlende Zuneigung zu holen, die sie scheinbar vermisste und ohne Worte schon lange ertrug.
Die Irritation wurde größer. Jedes Mal, wenn nun Steininger anderer Meinung als seine Frau war, sich alles zu einem Streit aufzuschaukeln begann, beendete er urplötzlich das Gespräch. So als würde er damit verhindern wollen, aus Wut wieder zu diesem Küchenmesser oder einem anderen Gegenstand zu greifen, der als Waffe eingesetzt werden konnte. Dabei ging es ohnehin nur um hirnverbrannte, völlig überflüssige Themen, wie er meinte, wegen denen man sich weiß Gott nicht streiten musste. Seine Frau sah das anders.
In der Siedlung, in der die Steiningers wohnten, außerhalb von Wels, war er aber nicht der einzige Hitzkopf. Trotz der Nähe zur Stadt war es eine äußerst hinterwäldlerische Gegend. Die meisten waren Bauern oder Arbeiter, der eine oder andere eben Vertreter. Nichts Aufregendes.
Ein Au-Gebiet mit vielen Vögeln, die nicht nur in der Natur, sondern auch in den Köpfen der Anrainer herumschwirrten. Jäger und Sammler waren das. Sie sammelten kuriose Gerüchte, perverse Gedanken und schräge Vorurteile. Tausend Macken pro Person. Mindestens.
Rundherum gab es ein paar Gasthäuser. Eines davon lag direkt an der Traun, einem Fluss, der sich ziemlich gerade durch die Gegend schob. Steininger schlich sich langsam vom Schrottplatz. Jetzt gegen Abend wurde die Temperatur angenehmer. Er beschloss, etwas trinken zu gehen. Eine staubige Straße führte ihn zu Fuß an den Fluss, vorbei an den hitzebeladenen Sträuchern, die ihre sattgrünen Arme in den Wind streckten. Zwei Hunde lagen faul vor dem Tor eines Hauses. Steininger schwitzte und dachte an Paula. Da erst merkte er, dass er das im Renault gefundene, blutverschmierte Messer mitgenommen und seitlich in seine Trekkinghose gesteckt hatte. Er ließ es stecken und machte den Verschluss der Außentasche zu.
Das Gasthaus lag direkt an einer Wehr, man hörte das Wasser rauschen, es war ein angenehmes Rauschen, das sich unter den Schatten der Bäume zog, wo die Holztische und Stühle noch reglos standen. Das erste Glas Most trank er fast in einem Zug aus. Nach Feierabend würde sich der Gastgarten bis auf den letzten Platz füllen. In etwa einer Stunde.
„Hast du‘s schon gehört“, fragte ihn der Wirt.
„Was denn?“, erwiderte Steininger.
„Vor wenigen Tagen soll hier in der Nähe eine junge Frau mit einem Messer umgebracht worden sein. Sie haben aber weder die Frau noch die vermeintliche Tatwaffe gefunden. Und den Täter natürlich auch noch nicht. Nach den vorhandenen Spuren in der Au ist die Polizei aber zu dieser Vermutung gekommen. Sie fanden eine Menge Blut, blonde Haare und einen Damenschuh. Vielleicht lebt sie aber auch noch? War gerade im Radio zu hören.“
„Hab nur etwas davon am Rande gehört, von Paula am Telefon“, log Steininger, „war in den vergangenen Tagen auswärts, bin erst heute Morgen zurückgekommen“.
„Ach ja, ein Wagen wurde in der Nähe des vermutlichen Tatorts gesehen. Soll ein alter Renault Vier gewesen sein“, schilderte der Kramerwirt weiter. „So ein Wagen ist vorgestern in einen Unfall verwickelt worden. An einen Zaun geprallt. Als die Polizei dort ankam, war der Fahrer schon verschwunden. Sonderbar nicht!“
Natürlich kam Steininger jetzt sein Messer in den Sinn, und der alte Renault auf dem Schrottplatz. Waren das vielleicht die vom Mörder benutzten Gegenstände? Er sog an seinem dritten Glas Most. Es schien ihm, als hörte er die Getreidefelder flüstern, die jenseits des Auwaldes lagen und die ihn jetzt in einen melancholischen Zustand versetzten. Der Alkohol begann zu wirken und ließ in ihm Gedanken hochkeimen.
„Stell dir vor, Paula, der ermordete Teenager wäre unsere Tochter gewesen“, dachte Steininger zu sich selbst.
Es musste einen Sinn gehabt haben, dass er und Paula keine Kinder bekommen konnten. Wenngleich einen unerklärbaren. Sie waren das einzige kinderlose Ehepaar in der ganzen Siedlung, was ihnen bis heute übelgenommen wurde, so als hätten die Steiningers absichtlich keinen Nachwuchs gezeugt, nur um die Nachbarn zu ärgern. Dabei hatte noch nie jemand mit ihnen darüber gesprochen. Hineininterpretieren, ohne zu reden, wurde hier überhaupt zum Dogma erhoben. Das Miteinander funktionierte, solange man die Erwartungen der anderen erfüllte.
Steininger bezahlte und machte sich auf den Heimweg. Die Hitze war dem etwas Kühle bringenden Abend gewichen, leicht ungleichgewichtig setzte er Schritt für Schritt auf den schotterigen und holprigen Weg.
War er zuerst ziemlich erstarrt und trotz des Alkohols wenig entspannt an dem Gastgartentisch gesessen, gedanklich mitten hineinkatapultiert in einen Mord, fiel ihm das Atmen jetzt leichter. An der Kreuzung, von der eine Straße in seine Siedlung abbog, kehrte er um Richtung Schrottplatz. Steininger wollte unbedingt das Messer loswerden. Jetzt war er sich fast sicher, dass es sich um die Tatwaffe handelte. Und beim alten Renault um jenes Auto, mit dem der Mörder geflüchtet war.
Er schlich sich heran, als hätte er selbst etwas mit dem Mord zu tun, sein Blick legte sich detektivisch über das Gelände. Niemand war zu sehen, Steininger flüchtete zum alten Renault Vier, öffnete die zerbeulte Tür, knarrend, steckte das Messer wieder an den alten Platz zurück.
„Was machen Sie denn schon wieder hier“, erschreckte ihn der Schrotthändler August erneut, der meist auch am Abend noch arbeitete.
„Äh, ja wissen Sie, ich habe was liegen lassen, als ich vorhin da war“.
„Sie können den Wagen ja mitnehmen, wenn Sie wollen. Für zweihundert Euro gehört er Ihnen. Ist ein Unfaller. Totalschaden“, grinste August.
„Ich überleg‘s mir“, schmunzelte Steininger zurück.
Der Abend hatte sich leise über die Landschaft gelegt, man hörte ihren Atem. Dazu hallende Schritte zwischen den Häusern. Steiningers Schritte, die sich seinem Haus näherten. Er zögerte, als er vor der Türglocke stand, als wüsste er, dass sich gleich dahinter etwas Unangenehmes offenbaren würde.
„Hallo Paula“, sagte Steininger etwas müde.
„Sie haben ihn“, polterte es aus Paula überfallsartig heraus, ohne seinen Gruß zu erwidern. „Vor einer halben Stunde wurde er gefasst. Es ist der Sohn vom Rachbauer, der Lois. Machte einen verwirrten Eindruck, als sie ihn aufgriffen. Das Tatmesser haben sie allerdings nicht gefunden. Hat er anscheinend in die Traun geworfen. In seinem Auto entdeckte die Polizei blonde Haare einer jungen Frau. Bislang hat er aber nicht verraten, wo er sie hingebracht hat.“
„Welches Fahrzeug hat er denn“, fragte Steininger.
„Irgendeinen Japaner“, antwortete Paula.
„Ach so“.
Steininger ging zum Kühlschrank und machte sich ein Bier auf. Eigentlich war er enttäuscht, dass das Auto des Mörders kein Renault war, dass er anscheinend das Tatmesser in die Traun geworfen hat, dass sie ihn so schnell gefasst haben. Die Siedlung hatte ein Gesprächsthema.
Steininger wollte jetzt nicht mehr darüber reden, wenngleich er sehr nachdenklich schien. Sollte er Paula von dem Messer erzählen? Schon während er dies dachte, verwarf er den Gedanken.
Paula, die Hausfrau von bäuerlichem Äußeren, mit roten Wangen und streng zurückgekämmter Frisur, gekleidet in Gewändern aus den Siebzigern und ein Genie in der Küche, saß ihm gegenüber, schweigend, überlegte einen Moment es ihm jetzt zu sagen, dass sie sich vor zwei Jahren hat verführen lassen. Wenn sie ihm das jetzt sagen würde und auch noch mit wem, würde er völlig durchdrehen, mit einem Messer auf sie losgehen und sie abstechen. Ja, das würde er, da war sie sich völlig sicher.
In dieser Nacht damals, in der Steininger beruflich wieder einmal auswärts unterwegs war, war es passiert. Ausgerechnet mit dem Rachbauer, der eigentlich gar nicht ihr Typ und auch nicht attraktiver war als ihr Mann, und dessen Sohn nun ein Mörder war. Dennoch muss irgendeine Sehnsucht da gewesen sein, eine bis dahin unerfüllte.
Paula schwieg, ging zur Spüle und wusch das Geschirr.
Der Lärm der Grillen mischte sich in ihre brennenden Gedanken.
Wortlos gingen sie zu Bett.
Zu Mittag des nächsten Tages sagten sie im Radio, dass der Sohn vom Rachbauer doch nicht der Mörder sein kann. Die Haare der jungen Frau, die in seinem Auto gefunden wurden, waren jene seiner Schwester. Und die Sache mit dem Messer war auch gelogen. Wollte sich nur wichtigmachen, Aufmerksamkeit erregen, der Sonderling, der noch nie eine feste Freundin hatte. Auch das war immer Gesprächsthema in der Siedlung gewesen. Dabei hätte man ihm so eine Tat schon zutrauen können, dachte Steininger.
Schon der Sepp referierte am Stammtisch, meist erst nach fünf Halbe Most, immer wieder darüber: „Ich sag‘s euch, der Lois, der bringt eines Tages noch wen um.“ Niemand widersprach ihm, denn alle dachten dasselbe. Lois passte nicht ins Schema dieser stets auf Ordnung bedachten Einwohner, ihrer Ordnung. So einem, ja so einem, traute man alles zu. Alles Böse. Es wäre für die Siedlungsbewohner nur gerecht gewesen, wenn sie in Lois den Mörder gefunden hätten. Sie waren enttäuscht, dass er es nicht war, so als hätte man sie um ihre Menschenkenntnis betrogen.
Die Hitze hielt immer noch an. Es war einer dieser heißen Sommer, die immer häufiger auftraten. Der Wasserstand der Traun lag so niedrig wie schon lange nicht. Steininger, der ein paar Tage frei hatte, trieb sich am Ufer in der Nähe der Wehr herum. Er spazierte mit schweren Schritten dahin und dachte an die Radiomeldung, die er gehört hatte, bevor er aus dem Haus ging.
Heute Morgen wurde unweit der Wehr die tote junge Frau angeschwemmt. Sie war Ausländerin. Illegal als Prostituierte im Land. In ihrer Jackentasche fand die Kripo ein vergoldetes Feuerzeug, dasselbe Modell, das Steininger schon einmal bei einem seiner Arbeitskollegen gesehen hatte. Auch die Initialen darauf passten: A. S. Wie Alfred Schwaiger. Schwaiger fuhr einen Renault Vier und hatte vor kurzem einen Unfall.