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DAS HAUS AM SEE

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Über den Irrsee wanderte an diesen Herbsttagen oft ein ungewöhnlich
sanftes Licht, an den Ufern erröteten die Schilfrohre vor
der ungeheuren Schönheit der Abendsonne, ruhig lagen Boote
auf dem Wasser, sie schwebten in den untergehenden Tag. Auf
den Schultern der Häuser lagen rotbraune Decken aus Blättern,
weich umhüllten sie die Landschaft aus mittelhohen Hügeln.
An einem solcher Herbsttage fuhren zwei Fischer mit ihrem Ruderboot
früh hinaus, in der Morgendämmerung eines Samstag,
um Reinanken und Forellen zu fangen und sie der Seewirtin zu
verkaufen, die ihre Gaststätte samt ausgedehntem Grundstück
direkt am See liegen hatte.
Der Irrsee gilt seit jeher als geheimnisvoll. Ein Gewässer, dass
Unerklärliches verbarg, etwas das den hier lebenden Menschen
immer schon Angst einjagte. Sonderbares geschah immer wieder
in den vergangenen Jahrzehnten, wenngleich seine Schönheit
die Leute magisch anzog.
Roman und Herbert gelang in den ersten zwei Stunden bereits
ein guter Fang, bald würden sie Schluss machen für diesen
gewinnbringenden Tag. Noch ein letztes Mal warfen sie gegen
sechs Uhr früh die Rute aus, um anschließend zusammenzupacken
und ans Ufer zurückzukehren. An Romans Haken verbiss
sich denn auch bald eine prachtvolle Forelle, als krönender Abschluss.
Auch bei Herberts Angelrute machte sich Widerstand
bemerkbar.
„Es muss ein ziemlicher Brocken von Fisch am Haken hängen“,
sagt er zu Roman. Nachdem er die Schnur zurückgespult hatte -
niemand schien sich mehr dagegen zu wehren - kam etwas zum
Vorschein, mit dem beide nicht gerechnet hatten. Kein Fisch hing
dort, sondern ein ungewöhnlich verziertes Holzstück.
„Es sieht wie eine Spieluhr aus“, grinste Herbert, der mit seinen
Fingern langsam über die Figuren strich, Drachen ähnlich, mit
furchterregenden Fratzen, halb Mensch, halb Tier, Fabelwesen.
„Könnte aus dem asiatischen Raum stammen“, meinte Herbert,
der schon zweimal in China gewesen war.
„Lass uns ans Ufer rudern und das Stück reinigen“, erwiderte
Roman. „Vielleicht finden wir einen Liebhaber asiatischer Kunst,
der uns das Ding zu einem guten Preis abkauft?“

„Ich kenne dieses Stück“, sagte Raimund, als die beiden jungen
Fischer es bei der Seewirtin auf den Tisch legten. „Ich hatte so
eine Spieluhr mal in meinem Antiquitätenladen, ist aber schon
fünfundzwanzig Jahre her. Soweit ich mich erinnere, hat es mir
jemand verkauft, der das Ding aus Asien mitbrachte und es eines
Tages um keinen Preis mehr behalten wollte, weil es angeblich
verhext war.“
„Ist es das gleiche Stück?“, fragte Roman.
„Es sieht zumindest genauso aus“, sagte Raimund, der seinen
Laden inzwischen aufgegeben hatte und vor drei Jahren in Pension
gegangen war. „Mich erstaunt nur, dass ihr es im See gefunden
habt. Wie es dort wohl hineingekommen ist?“
Roman wickelte die Spieluhr in Zeitungspapier.
„Was wollt ihr damit anfangen?“, fragte Raimund weiter.
„Wir wissen es noch nicht genau, vielleicht verkaufen“, antwortete
Herbert.
„Vorläufig werden wir es einmal behalten“, redete Roman dazwischen.

Er stand auf der Terasse seines Hauses direkt am Ufer des Irrsees.
Er war ein Schauspieler aus Wien, der sich vor wenigen
Monaten hier in einer gerade im Herbst melancholisch anmutenden
Natur einen Zweitwohnsitz angeschafft hatte. Eine Hand auf
dem Holzgeländer aufgestützt, in der anderen eine Zigarette, die
Raulederjacke offen, starrte er auf den See hinaus, als wollte er
ihm seine Geheimnisse entlocken. Ein für allemal. Dabei steckten
in seinem Haus doch selbst Geheimnisse, wie man sich im
Dorf Zell am Moos, zu dem diese Gegend gehörte, erzählte. Zwei
frühere Besitzer sollen unabhängig voneinander mehrmals einer
unerklärlichen Stimme gefolgt, in einer nebeligen Nacht dann auf
den See hinausgerudert und niemehr zurückgekehrt sein. Innerhalb
eines Jahres.
„Alles Humbug, blödsinniger Aberglaube“, war der Schauspieler
überzeugt. Und lebte mit dieser Überzeugung nicht allein.
Als er davon hörte, dass zwei Fischer eine Spieluhr im See fanden,
wollte er sie sehen. Der Schauspieler älteren Semesters
hatte ein Faible für asiatische Kunst, die oft auch Kitsch war.
Raimund arrangierte mit den beiden jungen Fischern und dem
Schauspieler ein Treffen bei der Seewirtin.

Es war ein Sonntagabend Anfang November. Über Nacht war es
ziemlich kalt geworden. Der Schauspieler bestellte roten Glühwein,
Roman und Herbert Glühmost und Raimund ein Bier.
„Nun, lassen Sie mal das schöne Stück sehen“, sagte der Schauspieler.
Roman packte die Spieluhr langsam aus.
„Äußerst interessant“, bemerkte der Theatermann.
„Welchen Betrag habt Ihr euch dafür so vorgestellt? Oder wollt
ihr sie gar nicht verkaufen?“
„Was bieten Sie?“, fragte Herbert.
„Es scheint ein Original zu sein, hab‘ so etwas mal auf einer Reise
durch China gesehen“, sagte der Schauspieler mehr zu sich
selbst.
Nach mehreren Gläsern Glühwein besiegelten sie ihr Geschäft
mit einer Runde Schnaps. Der Schauspieler bot zweihundert
Euro, was den beiden Fischern zuwenig war, die fünfhundert
wollten. Sie einigten sich schließlich auf dreihundertundfünfzig
Euro, was für beide Seiten ein guter Preis zu sein schien.

Von diesem Abend an stand die Spieluhr auf dem Kaminsims im
Hause des Wiener Schauspielers. Er ließ sie reinigen und reparieren,
sodass sie wieder spielte. Die Melodie war chinesisch und
erinnerte an den Klang einer Kniegeige. Ein für unsere Ohren
seltsamer, aber exotischer und mystischer Klang.

An einem regnerischen Tag klopfte Georg an die Tür seines
Nachbarn Raimund.
„Hast du Zeit, mir ist da etwas eingefallen, das muss ich dir unbedingt
erzählen.“
„Ja, komm rein“, sagte Raimund.
„Ich weiß jetzt, wer diese Spieluhr damals gekauft hat. Es war
der Helminger Josef, einer der früheren Besitzer des Hauses, in
dem jetzt dieser Schauspieler wohnt. Ab diesem Tag hatte der
Josef aber nur noch Pech, das begann mit Kleinigkeiten und ging
soweit, dass der Brunnen, der zum Haus gehörte, plötzlich kein
Wasser mehr lieferte. Das hat dann ein solches Ausmaß angenommen,
dass er die Spieluhr eines Nachts einfach in den Irrsee
warf“, betonte Georg.
„Und du weißt ja, was mit ihm passiert ist!“
„Du glaubst, dass sein Verschwinden mit dieser Spieluhr zusammenhängt?
Dass sie diese unerklärliche Stimme war, von der er
öfters erzählte?“
„Möglich wär‘s ja, oder?“, erwiderte Georg.
„Aber das ist doch purer Aberglaube“, entschärfte Raimund diese
Vermutung.
„Man hat bis heute weder Josefs Leiche noch die des anderen
- wie hieß er doch gleich - gefunden. Obwohl Taucher danach
gesucht haben, nicht wahr?“
„Warum hätten sich die beiden einfach so selbst umbringen sollen?“,
rätselte Georg.
„Wir werden es vielleicht nie erfahren“, sagte Raimund.

Der Schauspieler stand am Kaminsims, drückte den kleinen Hebel
an der Rückseite der Spieluhr hinunter und die Melodie begann.
Es war gegen Mitternacht, er trank Tee und sah zum Fenster
hinaus auf den See, der vom Mond hell erleuchtet war. Nach
dem Ende der Melodie drückte er erneut den Hebel.

Gegen sieben Uhr früh entdeckten Spaziergänger am anderen
Ufer des Irrsees ein leeres Fischerboot.
„Das gehört doch Roman“, sagte einer aus dem Trio.
„Aber wieso lässt er das Boot hier einfach zurück?“ „Hoffentlich
ist ihm nichts passiert.“
Trotz intensivster Suche wurde Roman nicht gefunden. Etwa
sechs Monate nach seinem Verschwinden geschah dasselbe mit
seinem Kumpel Herbert. Auch er blieb unauffindbar.

Raimund und Georg saßen bei der Seewirtin in der Stube am
Stammtisch, als der Schauspieler eintrat.
„Setzen Sie sich ruhig zu uns“, sagt Raimund.
„Wie geht‘s denn ihrer Spieluhr, läuft sie noch?“, fragte Georg.
„Hab‘ sie schon lange nicht mehr benützt“, sagte der Wiener. Eigentlich
nur zweimal im vergangenen halben Jahr.“
„Wann war das? Können Sie sich noch an den Tag erinnern?“,
löcherte ihn Raimund.
„Das letzte Mal vor einer Woche, vergangenen Mittwoch, das
weiß ich noch genau, das zuvor muss schon länger her sein,
sechs Monate etwa.“
„Letzten Mittwoch, sagen Sie? Aber das war doch der Tag, an
dem Herbert verschwand. Und Romans Verschwinden ist etwa
ein halbes Jahr her.“
„Ich weiß auf jeden Fall, dass immer Vollmond herrschte“, betonte
der Schauspieler. „Weil der See total beleuchtet war, wie von
riesigen Scheinwerfern.“

Roman und Herbert verschwanden tatsächlich an jenen Tagen,
an denen der Schauspieler in einer Vollmondnacht die Spieluhr
betätigte. Das haben genaue Recherchen von Raimund und
Georg ergeben. Seitdem rührte der Schauspieler nie wieder die
Spieluhr an und entschloss sich schließlich, sie zu verkaufen.

Vor wenigen Tagen hatte ein junger Fischer eine Spieluhr aus
dem See gefischt. Figuren darauf, Drachen ähnlich, mit Furcht
erregenden Fratzen, halb Mensch, halb Tier, Fabelwesen.

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